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micha ullmann
Gisela Jäckle kenne ich seit mehreren Jahren.
Sie war Studentin meiner Klasse.
Von Anfang an war ich fasziniert von ihrem besonderen und ungewöhnlichen Umgang mit Material und Form. Ich beobachtete, daß Gisela Jäckle eine besondere Wahrnehmung für ihr Gegenüber hat. Ihr Hauptinteresse lag bei der Entwicklung von Hörprozessen, um Unsichtbares zu entdecken.
In der Bildhauerei, im Dialog mit Material, Form und Gewicht, Farbe und Raum, Rhythmus und Bewegung entstand eine sehr eigenständige Arbeit. Ebenso in der Zeichnung, die parelell dazu entstand. Ihr Anliegen ist es, Brücken zu schlagen zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem.
Gisela Jäckle hat eine besondere Fähigkeit mit dem Stein zu reden. So geschieht das Wunder, die Konfrontation mit hartem, schwerem Material das in Bewegung kommt und eine ungewöhnliche Leichtigkeit erhält. Ihr Umgang mit Material ist nicht das Beherrschen, sondern die Begegnung. So erreicht sie menschliche Präsenz.
Die Arbeit von Gisela Jäckle sehe ich als einen persönlichen Kampf um Raum zum Atmen in schwieriger Umgebung. Dieser Kampf bedeutet Leiden und Einsamkeit. Vielleicht ist ihre Arbeit der einzige Weg, die Verbindung zum Anderen und zur Gesellschaft zu finden.
Es ist mir eine besondere Freude zu beobachten wie sensitiv und überzeugend ihre Entwicklung ist. Langsam, Schritt für Schritt geht sie den unendlichen Weg von außen nach innen in die Tiefe ihrer Gefühle und ihrer Seele.
Sie hat ihren Weg gefunden und zeigt uns die Richtung. Wir sind eingeladen sie zu begleiten.
adrienne braun
Gisela Jäckles Kunst ist anders. Die Arbeiten wollen keine intellektuellen Gedankenarbeit initiieren, sondern diese ist bereits vor der Entstehung geleistet worden.
Gisela Jäckle ist eine langsame, sorgfältige arbeitende Künstlerin. Ihre Arbeiten entstehen in einem Monat, manchmal auch Jahre währenden Prozess. Am Beginn dieses Prozesses steht eine " grobe Ahnung", wie sie selbst es nennt. Sie begibt auf die Suche nach dem geeigneten Material. das sagt sich leicht dahin, doch wenn Sie die verschiedenen Steine betrachten, werden Sie schnell feststellen, wie charaktervoll das jeweilige Material ist, wie unterschiedlich in seinen haptischen und optischen Qualitäten, wie differenziert die Wirkung ist.
Hier die poröse, instabile Steinkohle, dort der harte, unbezwingbar scheinende
Basalt oder weiche Graphit, der fast zu fließen scheint.
Gisela Jäckle besitzt eine ungewöhnliche Sensibilität für ihr Material. Sie horscht, lauscht, empfindet, eh sie den Stein bearbeitet. Sie fühlt sich in der Beschaffenheit des Materials ein, um seine Sinnlichkeit, sein Wesen erfassen zu können. Sie zwingt dem Material keine erdachte Form auf, sondern der künstlerische Eingriff wird durch den komplexen Charakter des Materials gesteuert. Um diesen in seiner Komplexität zu erfassen, muss auch der Rezipient einen Kontakt mit dem Materie aufnehmen, der jenseits der Worte liegt. Ich habe Sie ja bereits vorgewarnt: mit sprachlichen Chiffren lässt sich dieses Oeuvre nicht fassen:
Intuition, Einfühlung, nonverbale Botschaften. Intuition, Einfühlung, was für erbärmliche, abgeschmackte Worte, zumal das Intuitive derzeit wenig Konjunktur hat und desavouierend mit Gefühligkeit assoziert wird.
Gisela Jäckles Kunst macht schnell deutlich, wie töricht diese Abwertung ist. Sie ist bewegend, beflügelnd, trösend und manchmal quälend, zärtlich und harsch. Um diese Vielfalt zu erleben, sollte man sich mit einem der werke an einen stillen Ort zurückziehen.
Lassen Sie uns deshalb im Geiste hinab schreiten in den Gewölbekeller, wo Gisela Jäckle in ihrer Installation " Gaben" den Boden mit gepressten Kohle -Eiern belegt hat. Eine stille, friedliche Atmosphäre fast wie in einer Kathedrale, ein zart ausgeleuchteter Raum, der sich größzügig öffnet. Ein geistiger Raum , der den Betrachter verstummen läßt, ihm eine fremde Welt eröffnet. Aber wohin führt der Weg?
Zunächst dorthin, wo Eierkohle hingehört: in den Kohlenkeller. Kohle ist ein Symbol für Wärme, Licht, für Energie schlechthin. Energie bildet die Basis des Lebens. Der bewusste Einsatz von Energie ist aber auch Indikator für die Zivilisation, für den Emanzipationsprozess des Menschen ? Sie kennen das Schlagwort „Am Anfang war das Feuer". Kohle markiert zugleich den Beginn der Industrialisierung, der automatisierten Gesellschaft mit all ihren mentalen, ökologischen und ökonomischen Problemen, die wir inzwischen allzu gut kennen.
Die Kunst von Gisela Jäckle lässt sich keineswegs auf eine konkrete Lesart reduzieren. Sie ist nicht erzählerisch, sondern assoziativ. Sie transportiert keine eindimensionale Botschaft, sondern eröffnet ein Universum an Konnotationen. Der nostalgische Rückblick auf die Kindheit zum Beispiel, als jeden Samstag der Vater in den Keller Kohlen holen ging. Oder traumatische Erinnerungen: Nächte im Luftschutzbunker.
Gisela,Jäckle ,hat jedes einzelne Kohle-Ei künstlerisch manipuliert. In jedes der 40 000 Stücke hat sie eine Furche gesägt, einen Schlitz wie bei einer Kaffeebohne. Die Assoziationskette ist lang: Das Ei: Keimzelle, Ursprung des Lebens, Symbol der Fruchtbarkeit. Der Spalt: eine provokante Reduktion des weiblichen Genitals, ein Mythos, der überfrachtet ist mit Gefühlen der Angst, der Abhängigkeit, aber auch der sexuellen Erregung. Ein Mal zugleich, ein Zeichen, das dem Individuum eine Rolle zuweist, die Rolle Frau.
Ich möchte Sie nicht weiter behelligen mit Assoziationen und Bildern, die vielleicht die Ihren nur blockieren. Diese möglichen Lesarten sollen Ihnen vielmehr aufzeigen, wie viele Assoziationen in diesem Werk stecken? und wie viele Gegensätze, um nach ausführlicher Vorrede nun auf das Eigentliche und Wegweisende dieser Kunst zu sprechen zu kommen. Das Werk von Gisela Jäckle lebt von der Spannung der Gegensätze, die unvereinbar scheinen. Was die Qualität ihrer Arbeit ausmacht, ist die Tatsache, dass diese widerstrebenden Pole, dass Harmonie und Aggression in ihren Werken koexistieren können. Die Skulpturen sind von vollendeter Schönheit, aber sie lassen auch Destruktion ahnen, Gewalt, Verwundung, Anklänge an Krieg, an das, was Energie eben auch bewirken kann. In der religiös?meditativen Aura im Keller klingen auch Angst erregende Assoziationen an, der schwere „Nomos" am Boden ist Penis, Rammbock, Streichholz, Rakete, alles in einem. Gegensätze auch im Formalen: Glatte, zärtliche Oberflächen werden mit scharfkantigen, rauen Partien kontrastiert. Eine geschlossene Form wird zerstört, und sei es nur durch einen minimalen Eingriff, eine Wunde, eine Verletzung, einen Schnitt. Gisela Jäckle glättet nicht, sie verleugnet nichts, ihre Kunst ist sich in jedem Moment der Ambivalenzen bewusst, die unsere Welt ausmachen. Sie akzeptiert sie als zwei Komponenten eines dualen Systems, das zerbricht, sobald das labile Gleichgewicht zwischen seinen Polen zerstört wird. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen, das uns allen am nächsten und auch ein wichtiges Thema für Gisela Jäckle ist: die zwischenmenschliche Beziehung. Jede Beziehung ist von ambivalenten Gefühlen beherrscht. Jedes Paar kennt neben der Liebe auch den grenzenlosen Hass. So stark ein Partner idealisiert wird, so heftig wird er manchmal abgewertet. Eine funktionierende, tragfähige Beziehung ? wie der Mikrokosmos Ehe ? muss diese Ambivalenzen aushalten können, muss die widerstrebenden Emotionen in Balance halten, so wie auch der Makrokosmos Politik. Wir erleben es derzeit ja wieder, wie schnell es zu Eskalationen kommt, wenn in einer Beziehung ? zwischen Nationen oder Kulturen ? die Gefühle eines Partners wie Hass, Missachtung und Diskriminierung, nicht berücksichtigt wurden ? und sich plötzlich unangemessen entladen. Gisela Jäckle führt uns mit jeder ihrer Arbeiten vor, dass die Ambivalenz Teil unserer Existenz ist. Wie vielfältig diese Gegensätze, wie unterschiedlich die Pole unseres Seins und unserer Gesellschaft sind, scheint jede Skulptur, jede Zeichnung auf eine andere Art zu erzählen, denn in jedem Material lauert ein eigener, spezifischer Konflikt, den sie zum Vorschein bringt. Gisela Jäckle gelingt es, Form und daten in Einklang zu bringen, denn die Natur selbst liefert ihr in ihrer Widersprüchlichkeit das Thema. Die Brüchigkeit eines Steines gibt eine Ahnung von der Brüchigkeit unserer Seele, die markanten künstlerischen Eingriffe lassen unsere Verletzbarkeit spüren, aber auch unsere aggressiven Anteile, selbst den härtesten Gegner, den härtesten Stein bezwingen zu wollen.
Gisela Jäckle versteht es, die Spannungen und Widersprüche konstruktiv einzusetzen. Ihre Kunst gibt Trost: weil sie eine Vision schafft von einer befriedeten Welt, einer demütigen, umsichtigen und weisen Existenz, die Abgründe und Schattenseiten zulassen kann, ohne an ihnen zugrunde zu gehen. Ein Moment des Friedens, der atemlos macht, ruhig, bescheiden, weil man diesen Moment der ausbalancierten globalen Einheit nicht gefährden will. Ihre Kunst solle wie homöopathische Medizin wirken, hat Gisela Jäckle einmal gesagt. Keine Medizin, die das Übel ausrottet, sondern die Kraft gibt, um mit dem Übel leben zu können.
Um geheilt zu werden, genügt es, wie Sie wissen, freilich nicht, nur den Beipackzettel zu lesen. Deshalb genug der Worte, die doch nur eine Ahnung geben können von der Medizin Kunst. Nehmen Sie die Arznei nun selbst ein und lassen Sie sich Zeit dabei, denn die Kunst von Gisela Jäckle wirkt auf alle Bereiche der Existenz ein: den Intellekt, die Sinne, die Emotionen. Ich wünsche Ihnen eine offene, bereite Seele, um diesen archaischen und zugleich zukunftsweisenden Kraftspender Kunst in sich aufnehmen zu können.
barbara heuss-czisch
In den letzten Jahren besteht das Material aus dem Gisela Jäckle ihre Skulpturen entwickelt aus unterschiedlichsten Steinarten. Wie Ulrich Rückriem könnte auch sie ihre Position folgendermassen beschreiben: „Die - (Künstlerkollegen) - gehen raus aus dem Material, ich gehe rein.“ Die Suche nach dem Stein ist dabei ein Teil der Arbeit. Gisela Jäckle sucht vergessene Orte auf z. B. verbrauchte Abraumlandschaften, stillgelegte Steinbrüche, um die überflüssigen, zurückgelassenen Materialien aufzuspüren, geht in Steinbrüche, um den Stein auszuwählen, mit dem sie die Arbeit aufnehmen kann. Das Material als Teil und Zeugnis des Entstehungsprozesses unserer Erdgeschichte, als Tiefenstein oder Sedimentgestein, das aus der Glut erkaltet ist, zum Teil zermahlen und wieder zu neuem Stein zusammengeschmolzen oder gepresst, hat Teil am Werden der Skulptur.
Der Stein wird also nicht als ästhetisch reizvoller, interessanter Werkstoff behandelt, sondern als Teil unseres Lebens - unserer Geschichte. Er sagt etwas aus über die Verwandlungen, denen er, denen die Erde unterworfen war und sein wird. Er sagt also etwas aus auch über Zukunft. In der Weise wie Gisela Jäckle die Steine behandelt wird deren jeweilige Charakterbeschaffenheit aufgenommen. Insofern ist sie im Umgang mit dem Material Beuys verwandt, der die spezifische Eigenart des Materials als eigenständige Energie im Kunstwerk wieder entdeckt hat.
Gisela Jäckle verwendet unterschiedliche Steine aus verschiedensten Gegenden und Ländern, den roten Travertin aus dem Iran („Durchschein“), den grünen Diabas aus Deutschland („Im Grund“), den beinahe weißen Travertin aus Italien („Pian di Palma“). Auch die unterschiedlichen Farbwerte der Steine sind unmittelbarer Bestandteil der Form wie z.B. das Rot des Travertins im „Durchschein“, 1998, das den Charakter des Organischen - z. B. die Assoziation von Knochen, als Teil eines Röhrensystems unterstützt oder schon 4 Jahre früher, das Grau/Schwarz/Weiss des Granit, das in der Skulptur „Offen“ (1994) die dunkle Konzentration in der Höhlung bedingt. In „Offen“ wird dabei auch die kristalline Steinstruktur aufgegriffen, ihr diffuses Farblicht zusammengeführt in der dunklen Raummulde, die sich in einen immateriellen Raum ausdehnt, bis sich andere Sinne öffnen . ... “ der Künstlerin über die gegenseitige Durchdringung von Dimensionen wie innen und aussen, oben und unten oder hören und sehen. Dieser „andere“ Raum ist nicht inszeniert wie bei Turell oder immaterialisiert wie bei Kapoor, er ist vorhanden im Stein. Dem Betrachter ist es überlassen die Spur aufzunehmen, er wird dazu nicht verführt durch überraschende Kunstgriffe. Zurückhaltend, reduziert beinahe bis zur spröden Anonymität ist der Eingriff ins Material, durch den die Künstlerin dem Betrachter die Begegnung anbietet. So wird ihm die eigene Gabe des in die Welt und in die Kunst Sehens bewußt. Gisela Jäckle reduziert die Geste ihrer Formen soweit, bis zwischen Zufall und Präzision ein Gleichgewicht hergestellt zu sein scheint.
Schon in der Arbeit von 1992 „In Beziehung“ (Bronze und Stahl) ist dieses Verhältnis angekündigt. Ein weit ausladendes Gerüst ist aufgebaut wie in einem wissenschaftlichen Experiment, genau bezogen auf den Akt der Balance, der Annäherung, in dem 2 Pendel, von verschiedenem Gewicht geführt, sich treffen. Die sperrige Weitläufigkeit des Skeletts scheint einer präzis kalkulierten, nüchternen Anordnung zu unterliegen und trägt im Pendelgewicht, als könnte - müsste - es so sein, die Last des ganz Anderen, des chaotisch Fliessenden. Dem Betrachter wird in der Anordnung ein Prozess gezeigt, der notwendig wird, um Gleichgewicht zu erreichen und gleichzeitig versteht er die Vorstellung, dass das Gleichgewicht notwendig ist. Die Plastik kann als Ganzes gesehen werden, ganz erschließen wird sie sich aber erst wenn der Betrachter den notwendigen offenen prozessualen Charakter mitvollzieht. Die Balance muss immer wieder erreicht werden.
In seinem Essay über Giacometti „Die Suche nach dem Absoluten“ schreibt Sartre: „Die Statuen Maillols schleudern einem frech ihre schwerfällige Ewigkeit in die Augen. Doch die Ewigkeit des Steins ist so viel wie Trägheit, ist eine für immer erstarrte Gegenwart.“ So befreiend genau diese Formulierung die Statuen Maillols beschreibt, so blind ist der Blick, für das Material - die Materie -, er kann das Bewegende darin, die Energie, nicht wahrnehmen. In den 50ger Jahren schon hat Beuys angefangen, die Aufmerksamkeit auf diesen blinden Fleck unserer kulturellen Tradition zu lenken:“Motive, Formen, Materialien eines Kunstwerks... sind für Beuys vor allem Manifestationen eines Unsichtbaren, das er mit dem Begriff, dem Denken, ja ganz allgemein mit Geist identifiziert.“ (Armin Zweite). Das Material ist nicht bloß ein Träger des Motivs und somit passives Element, sondern ist selbst konstituierendes Moment mit gleichberechtigten Qualitäten. Gisela Jäckle sieht in dieser künstlerisch - geistigen Haltung, die sie teilt, die Anerkennung von Verkanntem, Befreiung von Unterdrücktem, zur Sprache kommen von Sprachlosem, die Möglichkeit zur Harmonie.
Horch und sieh und laß dich einführen in die Welt, die uns dahin führt daß wir uns selbst begegnen (R. M. Rilke)
Für Gisela Jäckle, die diese Verse zitiert, geht dieser Weg auch in die Materie. Sie zeigt in ihren Skulpturen den Stein zum Teil so wie sie ihn gefunden hat. „Plan di Palma“ (1995), Travertin Italien, ist, auf der dem Betrachter gewöhnlich abgekehrten Seite, roh - wild - gelassen, mit den Spuren von Wasserpflanzen, die bei seiner Entstehung mitwirkten, der offensichtlich geringen Verfestigung, die ihn erscheinen lassen, als könne er sich auflösen, den Spuren der Energieschübe, die in der Erdgeschichte aufeinanderstiessen. Die andere Seite, durch eine einzige Form - einer flachen Höhlung - gespannt wie eine Membran, öffnet sich, hellhörig und zur Ruhe gekommen. Dionysisches und Apollinisches haben sich in diesem Moment zusammengefunden, halten Balance. So kennen wir Nike, die griechische Siegesgöttin, in manchen erhaltenen Torsi, als Mittlerin zwischen den Kräften.
Abbruch und Chaos, Entstehen und der Moment der Freiheit in der Überwindung des Unveränderbaren, sind einander zugeordnet. Albert Camus schreibt in seinem Essay „Der Mythos von Sisyphos - ein Versuch über das Absurde“: „Ich finde, daß alles gut ist, sagt Ödipus (am Ende seines Lebens, seines tragischen Schicksals) und dieses Wort ist heilig. Es wird in dem grausamen und begrenzten Universum des Menschen laut. Es lehrt, daß noch nicht alles erschöpft ist, daß noch nicht alles ausgeschöpft wurde.“ Die Schwelle des Anfangs und der Erstarrung ist im Werk Gisela Jäckles immer mitgedacht. Die Arbeit „Die Saat“ (1997, 22teilig Kalkstein, Deutschland) zeigt diese Spannung. Schwer und unbeholfen liegen 22 Kugeln ausgestreut in mehr oder weniger zufälligen Gruppen. Keine der Kugeln ist perfekt gerundet. Jede ist gezeichnet durch eine unterschiedlich grosse offene Stelle, die die geschlossene, rhythmisch gleichmässige Struktur der Oberfläche verletzt, aufbricht, in Frage stellt. Das Gestein wird sichtbar. Das Licht verfängt sich in den verschiedenen Strukturen der Oberfläche. Im rhythmisch behauenen Kontinuum der Rundung, gleichmässig beinahe diffus (serieller Musik ähnlich), dramatisch zwischen Dunkel- und Helligkeit im gebrochenen Stein. Soweit das Licht diesen Stein überhaupt tangieren kann. Es sieht beinahe so aus, als absorbiere er das Licht, wie er für seine Entstehung Bestandteile von Pflanzen absorbieren musste. Keine einzige Kugel dominiert, jede steht für sich und ist auf das Kontinuum bezogen. Jede einzelne aber hat ihr ganz eigenes Gleichgewicht, um das sie sich, wenn sie angestossen wird, bewegt. Dabei entsteht ein Klang und ein spezifischer Rhythmus. Durch solche synästhetische Erweiterung des Wahrnehmungshorizontes betont die Bildhauerin die Körperlichkeit der Begegnung. Durch die Serien der 22 unterschiedlichen Kugeln ist ein langsamer Bewegungs- Zeitablauf für den Prozess der Wahrnehmung vorgegeben, der durch den amorphen Kalkstein noch verzögert wird.
Auch die 1999 entstandene Arbeit „Volvere“ (Kalkstein, Deutschland) besteht aus vielen (24) Teilen. Sie sind alle aus einem einzigen Stein entstanden. Als die Bildhauerin auf diesen Stein traf, beeindruckte sie der Charakter zwischen Organischem und Architektonischem. Vor Ort ließ sie den Stein unterteilen, die Bohrlöcher sind in den Seitenbrüchen der Skulptur erhalten. Die einzelnen Scheiben wurden gerundet. Die Spuren des Meisels ergeben den Rhythmus der Aussenoberfläche (im Katalog ist die Verwandlung nachzuvollziehen). Die Skulptur, so könnte man sagen, lehrte den Koloss von Stein das Tanzen. In der Arbeit stehen die Scheiben in der Ordnung des ursprünglichen Steins, mit unterschiedlichen Abständen nebeneinander, einander zugeordnet und doch jede für sich, als könnte jede ihren eigenen Weg rollen. Die Gewichtung innerhalb der Skulptur betont das Ganze trotz grosser Selbständigkeit der Teile. Gisela Jäckle erzählt, daß sie gerne in medizinischen Büchern liest. Beim Lesen entstehen ihr manchmal Bilder für Skulpturen. Für „Volvere“ kann man sich als auslösende Lektüre gut die Beschreibung einer Wirbelsäule vorstellen. Aber das Bild taugt nur entfernt. Von einem Rad zum andern entsteht in der Skulptur ein immer Neues und gleichzeitig ein immer schon Dagewesenes. Die Form der Serie bedeutet Ambiguität zwischen Bestätigung und Nivellierung, Betonung und Verschleiß, erhöhter Aufmerksamkeit und Langeweile. Dagegen steht in der einzelnen Scheibe/Rad die Eindeutigkeit der Schwere gegen die Variationen des zur Beweglichkeit drängenden Rhythmus. Die Dichte des Gesteins, durch die Bruchoberfläche dargelegt, steht gegen den Raum, der sich dazwischen schiebt bzw. in den Abständen in Erscheinung tritt. Nichts ist in diesen Arbeiten dramatisch, man kann sogar von der Kargheit der kleinen Gesten sprechen und dennoch oder gerade deswegen verwickeln sie den Betrachter in hellhörige Aufmerksamkeit für das scheinbar Unscheinbare im scheinbar Reglosen, für die Energie im scheinbar Verbrauchten, für die Töne des Lebens im Stummen für die Widerlegung des Scheins. (Entsteht nicht das Interesse, das Camus für den R ü c k w e g des Sisyphos entwickelt aus solcher umwandelnden Aufmerksamkeit?)
Immer wieder hat Gisela Jäckle an Symposien teilgenommen. Dabei zeigt sich ihre Liebe zur grossen Arbeit, die sich sowohl auf das Körpermass des Menschen als auch auf die Landschaft bezieht. Auch da reduziert sie den Eingriff soweit wie möglich, erkundet zunächst die Bedingung des Ortes. In Saturnia (Toskana), dem Ort, der den Namen des alten römischen Gottes der Aussaat trägt (wahrscheinlich ist der Name etruskisch) wählte sie in einem stillgelegten Steinbruch zwei nahe beieinanderliegende Steinblöcke aus. „Saturnia“, Travertin 160 x 140 x 90 und 200 x 220 x 120 cm reflektiert in jeweils einem Teil / Block das Licht des Mondes und der Sonne. (Nur auf einer Seite wurde der Verlauf des Mondsteines verändert. Sonst beschränkte sich der Eingriff auf das rundende Abtragen und Schleifen der Oberfläche jeweils einer Fläche der Steine). Auf der weiten Fläche des Steins wird das Licht aufgefangen und verbindet sich mit der Dauer des Steins. Der Stein scheint sich dem Licht zu öffnen. In Saturnia, wo die heissen Quellen deren Wasser in Kaskaden Kalkbecken bilden, werden die Energien der Erde verströmt. Die Steine der Skulptur dagegen sammeln die Energien des Himmels.
Bei aller Offenheit in der Situation der einzelnen Arbeit bleibt die Künstlerin den Bedingungen des Materials, aber auch der Vorstellung der in sich geschlossenen Skulptur verpflichtet. Kein bestimmter Formenkanon bildet den Ausgangspunkt, sondern die Haltung mit der sie sich der Wirklichkeit stellt, der Wirklichkeit die sie auffindet im Material oder in der Landschaft und die der Wirklichkeit des Lebens, wie sie sie erkennt, entspricht. „Meine Arbeit“ sagt die Künstlerin „ist der Versuch, dem Leben Raum zu bewahren. Leben hat mit Berühren und Berührtheit zu tun. Die Welt driftet weg davon“. Das was vorhanden ist aber modisch beiseite geschoben, übersehen, an den Rand gedrängt ist, greift sie auf in der Auseinandersetzung mit dem Material, verdichtet es zum Kern der Form der Skulptur. Direkt, ohne erzählerische Umschweife, reduziert auf die knappsten Eingriffe, gibt sie ihm Form, gibt sie ihm Raum. Rilkes Verse begleiten sie:
Mitte aller Mitten Kern
der Kerne in dir ist schon
begonnen was die Sonnen übersteht