Gisela Jäckles Kunst ist anders. Die Arbeiten wollen keine intellektuellen Gedankenarbeit initiieren, sondern diese ist bereits vor der Entstehung geleistet worden.
Gisela Jäckle ist eine langsame, sorgfältige arbeitende Künstlerin. Ihre Arbeiten entstehen in einem Monat, manchmal auch Jahre währenden Prozess. Am Beginn dieses Prozesses steht eine " grobe Ahnung", wie sie selbst es nennt. Sie begibt auf die Suche nach dem geeigneten Material. das sagt sich leicht dahin, doch wenn Sie die verschiedenen Steine betrachten, werden Sie schnell feststellen, wie charaktervoll das jeweilige Material ist, wie unterschiedlich in seinen haptischen und optischen Qualitäten, wie differenziert die Wirkung ist.
Hier die poröse, instabile Steinkohle, dort der harte, unbezwingbar scheinende
Basalt oder weiche Graphit, der fast zu fließen scheint.
Gisela Jäckle besitzt eine ungewöhnliche Sensibilität für ihr Material. Sie horscht, lauscht, empfindet, eh sie den Stein bearbeitet. Sie fühlt sich in der Beschaffenheit des Materials ein, um seine Sinnlichkeit, sein Wesen erfassen zu können. Sie zwingt dem Material keine erdachte Form auf, sondern der künstlerische Eingriff wird durch den komplexen Charakter des Materials gesteuert. Um diesen in seiner Komplexität zu erfassen, muss auch der Rezipient einen Kontakt mit dem Materie aufnehmen, der jenseits der Worte liegt. Ich habe Sie ja bereits vorgewarnt: mit sprachlichen Chiffren lässt sich dieses Oeuvre nicht fassen:
Intuition, Einfühlung, nonverbale Botschaften. Intuition, Einfühlung, was für erbärmliche, abgeschmackte Worte, zumal das Intuitive derzeit wenig Konjunktur hat und desavouierend mit Gefühligkeit assoziert wird.
Gisela Jäckles Kunst macht schnell deutlich, wie töricht diese Abwertung ist. Sie ist bewegend, beflügelnd, trösend und manchmal quälend, zärtlich und harsch. Um diese Vielfalt zu erleben, sollte man sich mit einem der werke an einen stillen Ort zurückziehen.
Lassen Sie uns deshalb im Geiste hinab schreiten in den Gewölbekeller, wo Gisela Jäckle in ihrer Installation " Gaben" den Boden mit gepressten Kohle -Eiern belegt hat. Eine stille, friedliche Atmosphäre fast wie in einer Kathedrale, ein zart ausgeleuchteter Raum, der sich größzügig öffnet. Ein geistiger Raum , der den Betrachter verstummen läßt, ihm eine fremde Welt eröffnet. Aber wohin führt der Weg?
Zunächst dorthin, wo Eierkohle hingehört: in den Kohlenkeller. Kohle ist ein Symbol für Wärme, Licht, für Energie schlechthin. Energie bildet die Basis des Lebens. Der bewusste Einsatz von Energie ist aber auch Indikator für die Zivilisation, für den Emanzipationsprozess des Menschen ? Sie kennen das Schlagwort „Am Anfang war das Feuer". Kohle markiert zugleich den Beginn der Industrialisierung, der automatisierten Gesellschaft mit all ihren mentalen, ökologischen und ökonomischen Problemen, die wir inzwischen allzu gut kennen.
Die Kunst von Gisela Jäckle lässt sich keineswegs auf eine konkrete Lesart reduzieren. Sie ist nicht erzählerisch, sondern assoziativ. Sie transportiert keine eindimensionale Botschaft, sondern eröffnet ein Universum an Konnotationen. Der nostalgische Rückblick auf die Kindheit zum Beispiel, als jeden Samstag der Vater in den Keller Kohlen holen ging. Oder traumatische Erinnerungen: Nächte im Luftschutzbunker.
Gisela,Jäckle ,hat jedes einzelne Kohle-Ei künstlerisch manipuliert. In jedes der 40 000 Stücke hat sie eine Furche gesägt, einen Schlitz wie bei einer Kaffeebohne. Die Assoziationskette ist lang: Das Ei: Keimzelle, Ursprung des Lebens, Symbol der Fruchtbarkeit. Der Spalt: eine provokante Reduktion des weiblichen Genitals, ein Mythos, der überfrachtet ist mit Gefühlen der Angst, der Abhängigkeit, aber auch der sexuellen Erregung. Ein Mal zugleich, ein Zeichen, das dem Individuum eine Rolle zuweist, die Rolle Frau.
Ich möchte Sie nicht weiter behelligen mit Assoziationen und Bildern, die vielleicht die Ihren nur blockieren. Diese möglichen Lesarten sollen Ihnen vielmehr aufzeigen, wie viele Assoziationen in diesem Werk stecken? und wie viele Gegensätze, um nach ausführlicher Vorrede nun auf das Eigentliche und Wegweisende dieser Kunst zu sprechen zu kommen. Das Werk von Gisela Jäckle lebt von der Spannung der Gegensätze, die unvereinbar scheinen. Was die Qualität ihrer Arbeit ausmacht, ist die Tatsache, dass diese widerstrebenden Pole, dass Harmonie und Aggression in ihren Werken koexistieren können. Die Skulpturen sind von vollendeter Schönheit, aber sie lassen auch Destruktion ahnen, Gewalt, Verwundung, Anklänge an Krieg, an das, was Energie eben auch bewirken kann. In der religiös?meditativen Aura im Keller klingen auch Angst erregende Assoziationen an, der schwere „Nomos" am Boden ist Penis, Rammbock, Streichholz, Rakete, alles in einem. Gegensätze auch im Formalen: Glatte, zärtliche Oberflächen werden mit scharfkantigen, rauen Partien kontrastiert. Eine geschlossene Form wird zerstört, und sei es nur durch einen minimalen Eingriff, eine Wunde, eine Verletzung, einen Schnitt. Gisela Jäckle glättet nicht, sie verleugnet nichts, ihre Kunst ist sich in jedem Moment der Ambivalenzen bewusst, die unsere Welt ausmachen. Sie akzeptiert sie als zwei Komponenten eines dualen Systems, das zerbricht, sobald das labile Gleichgewicht zwischen seinen Polen zerstört wird. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen, das uns allen am nächsten und auch ein wichtiges Thema für Gisela Jäckle ist: die zwischenmenschliche Beziehung. Jede Beziehung ist von ambivalenten Gefühlen beherrscht. Jedes Paar kennt neben der Liebe auch den grenzenlosen Hass. So stark ein Partner idealisiert wird, so heftig wird er manchmal abgewertet. Eine funktionierende, tragfähige Beziehung ? wie der Mikrokosmos Ehe ? muss diese Ambivalenzen aushalten können, muss die widerstrebenden Emotionen in Balance halten, so wie auch der Makrokosmos Politik. Wir erleben es derzeit ja wieder, wie schnell es zu Eskalationen kommt, wenn in einer Beziehung ? zwischen Nationen oder Kulturen ? die Gefühle eines Partners wie Hass, Missachtung und Diskriminierung, nicht berücksichtigt wurden ? und sich plötzlich unangemessen entladen. Gisela Jäckle führt uns mit jeder ihrer Arbeiten vor, dass die Ambivalenz Teil unserer Existenz ist. Wie vielfältig diese Gegensätze, wie unterschiedlich die Pole unseres Seins und unserer Gesellschaft sind, scheint jede Skulptur, jede Zeichnung auf eine andere Art zu erzählen, denn in jedem Material lauert ein eigener, spezifischer Konflikt, den sie zum Vorschein bringt. Gisela Jäckle gelingt es, Form und daten in Einklang zu bringen, denn die Natur selbst liefert ihr in ihrer Widersprüchlichkeit das Thema. Die Brüchigkeit eines Steines gibt eine Ahnung von der Brüchigkeit unserer Seele, die markanten künstlerischen Eingriffe lassen unsere Verletzbarkeit spüren, aber auch unsere aggressiven Anteile, selbst den härtesten Gegner, den härtesten Stein bezwingen zu wollen.
Gisela Jäckle versteht es, die Spannungen und Widersprüche konstruktiv einzusetzen. Ihre Kunst gibt Trost: weil sie eine Vision schafft von einer befriedeten Welt, einer demütigen, umsichtigen und weisen Existenz, die Abgründe und Schattenseiten zulassen kann, ohne an ihnen zugrunde zu gehen. Ein Moment des Friedens, der atemlos macht, ruhig, bescheiden, weil man diesen Moment der ausbalancierten globalen Einheit nicht gefährden will. Ihre Kunst solle wie homöopathische Medizin wirken, hat Gisela Jäckle einmal gesagt. Keine Medizin, die das Übel ausrottet, sondern die Kraft gibt, um mit dem Übel leben zu können.
Um geheilt zu werden, genügt es, wie Sie wissen, freilich nicht, nur den Beipackzettel zu lesen. Deshalb genug der Worte, die doch nur eine Ahnung geben können von der Medizin Kunst. Nehmen Sie die Arznei nun selbst ein und lassen Sie sich Zeit dabei, denn die Kunst von Gisela Jäckle wirkt auf alle Bereiche der Existenz ein: den Intellekt, die Sinne, die Emotionen. Ich wünsche Ihnen eine offene, bereite Seele, um diesen archaischen und zugleich zukunftsweisenden Kraftspender Kunst in sich aufnehmen zu können.